In Philosophie gehe ich jetzt eigentlich nur noch in zwei Vorlesungen: Marxismus und Existenzialismus. Einen Schein werde ich wahrscheinlich in keiner von beiden machen, aber beide sind bei meinem akutellen Lieblingsprof,
Professor Mahon.
Ich schaetze ihn auf um die Sechzig. Zu seinen Veranstaltungen erscheint er immer top gekleidet, in Anzug mit Krawatte, und nicht etwa in einem C&A-Anzug, nein, Professor Mahons Anzuege waren offensichtlich teuer, jedenfalls sind sie sehr geschmackvoll. Sogar geschmackvolle Krawatten traegt er, und das ist, wie mir jeder Mann bislang bestaetigte, die wahre Kunst des sich-geschmackvoll-Kleidens.
Das Ueberraschende an Professor Mahons Erscheinung ist jedoch, dass aus seinem geschmackvollen Hemdkragen ein Kopf ragt, den man ungefaehr mit dem Kopf eines wahnsinnigen Kranichs vergleichen kann.
Sein Haar, das nicht etwa grau, sondern immer noch schwarz ist (oder gefaerbt, was ich aber nicht glaube), steht trotz seiner schuetteren Beschaffenheit in alle Richtungen ab, die blauen Augen hinter den Brillenglaesern sind immer weit aufgerissen, und alles in allem hat seine Mimik etwas Vogelhaftes, eine Art zurueckhaltende Nervositaet.
Seine Stimme ist jedoch, wie die bisherige Beschreibung vermuten lassen koennte, keineswegs schrill und laut, sondern sanft, fast zu leise, und seine Art zu reden weckt aus einem mir selbst nicht bewussten Grund die Vermutung, er haette als Kind gestottert und man haette ihm das Stottern wieder abtrainiert.
Ich setzte mich immer ziemlich weit vorne in die Vorlesungsraeume, damit ich Professor Mahon auch akustisch verstehen kann. Zum Glueck gehoert er aber zu den Dozenten hier an der Uni, die zu Beginn einer Sitzung das Skript mit dem Wortlaut der Vorlesung an die Teilnehmer austeilen.
(Wer die Kopierkosten bezahlt, ist mir schleierhaft, die philosophische Fakultaet vermutlich.)
Das sind immer meine Lieblingsvorlesungen: gemuetlich drinsitzen, einen Pappbecher mit Tee in der einen, einen Bleistift in der anderen Hand, Professor Mahons sanfter Stimme lauschen und ab und zu etwas in dem Skript mit Bleistift unterstreichen. Kein hektisches Mitschreiben, kein stressiges Fragenstellen.
Traumhaft. So sollte es immer sein.
Waere da nicht… der Eso-Typ.
Der Mann, der meine Traumvorlesungen jede Woche wieder in einen Albtraum verwandelt.
Das Haar in meiner Suppe, die Fliege in meinem Chardonnay, der Missklang inmitten eines Chopin- Klavierkonzerts.
Der Eso-Typ!
Ich bin mir inzwischen ziemlich sicher, dass der Eso-Typ ein amerikanischer Austauschstudent ist, der keineswegs aelter als 17 Jahre sein kann.
Wie er wirklich heisst, weiss ich nicht, und es ist mir auch egal.
In wallende pseudo-buddhistisch angehauchten Gewaendern wandelt der, den ich nur den Eso-Typen nenne, ueber den Campus und versprueht eine angespannte Abgehobenheit, eine religioes-fanatische Besserwisserei gepaart mit an Hysterie grenzender Arroganz, von der ich nicht weiss, ob sie typisch amerikanisch oder typisch pubertaer oder beides ist.
Der Eso-Typ ist einer von den Menschen, die Philosophie studieren, um irgendwie tiefsinnig zu wirken und dadurch mehr Frauen ins Bett zu kriegen, jedenfalls studiert der Eso-Typ bestimmt nicht Philosophie, weil er irgendetwas herausfinden moechte. Vielmehr scheint er dieses Fach gewaehlt zu haben, um allen Leuten erzaehlen zu koennen, was er schon weiss, naemlich: alles.
Dieser Typ unterwandert meine Lieblingsvorlesungen bei Professor Mahon, in jeder einzelnen Sitzung.
Seine Beitraege unterscheiden sich von normalen Diskussionsbeitraegen wie eine nette E-Mail von einem Freund sich von einer enlarge-your-penis-Spam-Mail unterscheidet. Er sagt eigentlich nichts, und schon gar nichts, was irgendwie mit dem Thema zu tun haette.
Er labert einfach. Minutenlang.
Anfangs hat Professor Mahon noch versucht, auf das einzugehen, was der Eso-Typ sagt. Als er zum Beispiel behauptete, die USA seien Gottes auserwaehltes Volk, wandte Professor Mahon noch sanft ein, dass das auch schon andere Voelker von sich behauptet haetten. Weil der Eso-Typ solche Bemerkungen aber waehrend einer Existenzialismus-Vorlesung im Fuenfminutentakt dem Gehege seiner Zaehne entweichen laesst, sagt Professor Mahon nur noch „Ok“ und macht einfach weiter mit der Vorlesung, ein still leidendes Laecheln im Gesicht, still leidend wie alle Philosophiestudenten, deren Dienstagvormittag jede Woche von dieser Patchouli-Rosette ruiniert wird.
Doch letzten Dienstag geschah etwas Wunderbares.
Es ging im Simone de Beauvoir und den Zusammenhang zwischen Existenzialismus und Feminismus. Professor Mahon hatte gerade einen Abschnitt des Textes beendet, blickte auf und fragte, ob jemand etwas dazu beitragen moechte.
Natuerlich meldete sich als Erster der Eso-Typ.
(Was noch dazu kommt, ist ja, dass man sich in irischen Unis nicht durch Handheben meldet, sondern einfach losredet, so dass erst recht nichts und niemand den Eso-Typen aufhalten kann.)
Der Eso-Typ laberte also fuenf Minuten lang, Professor Mahon sagte „ok“ und fragte dann, ob vielleicht auch eine Frau etwas dazu sagen moechte (schliesslich ging es ja um Frauen, und der Prof hatte damit die perfekte Entschuldigung dafuer, den Eso-Typen von weitern Bemerkungen abzuhalten).
Eine aeltere Dame aus der zweiten Reihe setzte an, etwas dazu zu sagen, aber kaum hatte sie drei Saetze geredet, als der Eso-Typ sie auch schon unterbrach.
„Was faellt dir ein, mich zu unterbrechen?“ herrschte sie ihn an, doch er redete einfach weiter.
„Kannst du mich vielleicht mal ausreden lassen, du Arschloch? Halt’s Maul! Halt endlich dein Maul!“
Der Eso-Typ, ohne seinen Redefluss zu unterbrechen und mit seiner geballten scheinheiligen Dreistigkeit: „Warum beschimpfst du mich? Hab ich dir irgendetwas getan?“
Die Dame begann, ihre Tasche zusammenzupacken, stand auf und sagte laut (waehrend der Eso-Typ immer noch weiterredete): „So kann ich nicht arbeiten. Ich gehe jetzt und komme erst wieder, wenn dieser Idiot aus dieser Vorlesung verschwunden ist.“
Mit diesen Worten rauschte sie zur Tuer, die sie schwungvoll hinter sich zufallen liess.
Erst zoegernd, dann immer lauter setzte der Applaus ein, bis alle Studenten, die die Existenzialismus-Vorlesung bei Professor Mahon am Dienstagvormittag besuchen, klatschend und trampelnd ihrer Begeisterung darueber Ausdruck verliehen, dass ihr stilles Leiden zumindest fuer diesen Moment ein Ende gefunden hat.
hirnklatsche - 26. Okt, 20:49