Versteh einer die Iren II

Eigentlich ist es ja schon ziemlich doof, nach Irland zu gehen, um Germanistik zu studieren.
Aber ich studiere eben Germanistik, und ich wollte halt nach Irland.
Von First-Year-Seminaren wird mir abgeraten, denn das sind größtenteils Sprachseminare, in denen die Iren wahrscheinlich den Unterschied zwischen Imperfekt und Perfekt lernen mussten/ gelernt haben, sowie den Umgang mit den ganzen Hilfsverben („hätten können zu sein“) und wahrscheinlich müssen sie auch Ablautreihen lernen, so wie ich im Grundstudium, hähä.

In den Third-Year-Seminaren allerdings wird tatsächlich auch über Literatur gesprochen. Ich habe eins belegt mit dem Namen „Wiener Moderne“, weil mir diese Bezeichnung, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, überhaupt nichts sagt.
Darin geht im Moment vor allem darum, Fräulein Else von Arthur Schnitzler zu lesen und sich darüber zu unterhalten. Was jetzt daran besonders wienerisch und modern sein soll, hab ich allerdings noch nicht begriffen.

Der Dozent ist Deutscher, ein harmlos wirkender Lehrertyp von unbestimmbarem Alter.
Es ist Mittwochnachmittag.
Der Dozent holt weit aus, schreibt das Wort „Pietismus“ an die Tafel. Dann setzt er an zu einer langen Rede über den Unterschied zwischen evangelischer und katholischer Frömmigkeit, und nach ein paar Sätzen begreife ich ungefähr, worauf er hinauswill:
„Fräulein Else“ ist ein Innerer Monolog, in dem das Fräulein meistens über sich selbst nachdenkt. Sich selbst gedanklich zu zerlegen war im 19. Jahrhundert üblich, und das geht auf den Pietismus zurück, der sagt, dass der Einzelne sich selbst prüfen muss vor seinem Gewissen und vor Gott, oder so ähnlich.

Eigentlich eine ganz harmlose Sache, ein bisschen weltanschaulicher Hintergrund zu dem Buch, das wir im Seminar eben lesen, oder, in meinem Fall, gelesen haben sollten.
Aber der gute Dozent verheddert sich.
In seinem betont deutlichen ich-spreche-mit-Ausländern-Hochdeutsch fängt er an, über den Unterschied zwischen Katholiken und Evangeliken zu philosophieren.
„Der Katholizismus ist ja viel sinnenfreudiger, also, weil die Katholiken ja Weihrauch verbrennen und so, und wenn der Katholik eine Sünde begeht, dann geht er einfach zur Beichte und der Priester sagt Te Absolvo und alles in Ordnung… aber wenn man evangelisch ist, muss man viel besser aufpassen, was man tut, denn wenn man eine Sünde begeht, kann man nicht einfach so beichten gehen, und, äh…. In katholischen Kirchen hängen ja auch viel mehr Bilder.“

Etwas verändert sich. Bis eben saßen die Studentinnen, größtenteils Mädchen Anfang Zwanzig, noch verschlafen auf ihren Plätzen und nippten an ihrem Kaffee und dachten wahrscheinlich darüber nach, ob sie sich neue Schuhe kaufen sollen und ob sie heute Abend mit oder ohne Vorglühen in den Pub gehen sollen, während sie mit halbem Ohr zuhören.
Aber jetzt verändert sich etwas.
Die meisten Seminarteilnehmerinnen sitzen plötzlich hoch aufgerichtet da.

„Äh… in evangelischen Kirchen hängen ja nicht so viele Bilder. Du sollst dir kein Bildnis machen. Für die Evangelischen ist nur die Bibel wichtig, das Wort.
Und für die Evangelischen ist auch nicht so wichtig, wie sie aussehen, sondern, was in ihnen vorgeht. Ob das richtig ist, was sie da machen.“

Die erste Hand schnellt nach oben. Ein Mädchen in der Reihe vor mir. Ich kann ihr Gesicht nur zu einem Viertel erkennen, aber ihre Augen funkeln. Jede Wette.
„Wollen sie damit sagen, Katholiken seien oberflächlicher als Protestanten?“
„Neinnein, ich meinte doch nur… bei den Evangelischen gibt es doch keine Beichte und…“

es ist krieg

Der arme Kerl. Niemand meldet sich mehr, die Studentinnen reden einfach und treiben ihn gnadenlos in die Defensive. Was soll das denn jetzt bitte, sagt ihr Tonfall.
Glaubt der etwa, es wär ein Zuckerschlecken, katholisch zu sein?
Glaubt er etwa, wir dröhnen uns jeden Sonntag mit Weihrauch zu und vögeln die ganze Woche wahllos in der Gegend herum, klauen alten Damen die Handtaschen und blinden Bettlern das Geld aus dem Hut, weil wir als Katholiken schließlich nur zur Beichte gehen müssen, und alles ist wieder in Ordnung?

Ich frage mich, wie viele der Mädels hier in diesem Seminarraum noch richtig hardcore-katholisch erzogen wurden. Ob sie darunter gelitten haben und wie sehr. Wie viele von ihnen immer noch zur Kirche gehen.

Mühsam kann der Dozent sie beschwichtigen: „Ich sage doch nicht, dass das Eine besser ist als das Andere….“
Aber völlig beruhigt sind sie immer noch nicht, und inzwischen sind wir auch völlig vom Thema abgekommen.
Die Diskussion redet sich selber tot, die allgemeine Erregung ebbt ab.

Das Mädchen in der Reihe vor mir verfällt langsam wieder in den üblichen Seminar-Halbschlaf.

Versteh einer die Iren.

Es fällt mir schwer, wieder in meinen Seminar-Halbschlaf zurückzufallen.
Dieses Aufflackern gerade eben hat mich überrascht, obwohl eigentlich damit hätte rechnen müssen. Dass die Iren katholisch sind und jahrhundertelang gegen das protestantische – oder anglikanische – England gekämpft haben, weiß ich doch.
Nur: jeder Ire, den ich bisher getroffen habe, hat mir gesagt, dass der ganze Nordirland-Konflikt erstens nicht mehr so schlimm ist wie früher, weil die Leute es nicht mehr so wichtig nehmen, ob Ulster jetzt dazugehört oder nicht, und zweitens, dass es dabei eigentlich sowieso nicht um religiöse Fragen geht.
Niemand in Irland glaubt noch, dass die protestantischen Ketzer direkt zur Hölle fahren. Kein Ire hat mich je schief angesehen, wenn ich gesagt habe, dass ich evangelisch bin.
Hugh (nein, das ist nicht indianisch für "ich habe gesprochen", sondern ein Eigenname), als ich es ihm erzählte, sah beinah so aus, als wollte er sagen: das ist mir doch wurscht, solange du keine Engländerin bist. Und selbst das wär mir letztendlich egal, solange du dir von mir nur zahlreiche Pints ausgeben lässt, schöne Maid.

Aber allem Anschein nach ist es eben doch nicht egal. Auch im fortschrittlichen säkularisierten Irland können Zwanzigjährige noch sauer werden, wenn ein unbedarfter deutscher Dozent etwas sagt, was irgendwie so verstanden werden könnte, dass er den Protestantismus dem Katholizismus vorzieht.

Der Dozent ist bestimmt Protestant, und nach seinem Tod fährt er direkt zur Hölle.
Und dort muss er dann Ablautreihen lernen bis in alle Ewigkeit.

das_letzte_gericht
pollon - 23. Sep, 22:10

Armer deutscher Dozent unter prizipientreuen und traditionsbewussten Iren, da ging es ihm wohl wie auf der "War"?

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